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Otto Back

Esperanto-Spuren im Occidental

Resumo

Esperanto-spuroj en Occidental

Kreita de Edgar de Wahl (Tallinn, Estonio) kaj publicita komence de la dudekaj jaroj, la helplingvo Occidental (poste alinomita Interlingue) baldaŭ fariĝis serioza defianto de Esperanto kaj Ido. Ĝi rolis grave en interlingvistika disputado dum pluraj jardekoj, ĝis laŭgrada perdo de anaro sub la premo de Interlingua, planlingvo de A. Gode. Tamen eĉ kritike juĝantaj fakuloj agnoskas la rimarkindajn internajn kvalitojn de Occidental - la provon atingi regulecon kadre de naturalisma lingvosistemo. Occidental'on eblas rigardi kiel situantan en kontakta zono inter du ĉefaj tendencoj de lingvofarado: inter naturalismo kaj - tio eble surprizas - la tradicio de Esperanto, ĉar de Wahl, elektante vortradikojn por sia lingvosistemo, plurfoje ĉerpis el Esperanto kaj ties devenanto Ido, aß estis stimulita de ili. La kontribuaĵo pritraktas la rezultajn spurojn de Esperanto en la vortprovizo de Occidental. Ĝi diskutas kriteriojn por identigo kaj klasifiko de la leksikaj esperantismoj kaj prezentas multnombrajn ekzemplojn.

Abstract

Esperanto traces in Occidental

Designed by Edgar de Wahl (Tallinn, Estonia) and published in the early 1920s, the auxiliary language Occidental (later renamed Interlingue) soon became a serious challenger to Esperanto and Ido. It played an important part in interlinguistic debate for several decades until it gradually lost followers under the pressure of A. Gode's Interlingua. Nevertheless, even critically minded specialists pay tribute to Occidental's remarkable intrinsic qualities - the attempt to achieve regularity within a naturalistic language scheme. Occidental can be viewed as a project situated at the interface of two major currents in language design: naturalism and, perhaps surprisingly, the Esperanto tradition. In fact, de Wahl, in selecting word-stems for his language scheme, repeatedly drew on, or was influenced by, Esperanto and its descendent, Ido. The paper deals with the resulting traces of Esperanto in the lexicon of Occidental. It discusses criteria for the identification and classification of lexical Esperantisms and presents numerous examples.

1 Ein breites Publikum hat die Namen dreier künstlicher Welthilfssprachen zur Kenntnis genommen: Esperanto, Ido und Volapük. Der Name Occidental ist dagegen nicht über interlinguistische Kreise hinausgedrungen. Und die Chancen dafür, dass sich dies ändern könnte, stehen schlecht: Denn die Anhängerschaft Occidentals, das zudem seit 1948/1949 den Namen Interlingue führt,1 ist wahrscheinlich nur noch mit einer zweistelligen Zahl zu beziffern. 2 Dennoch hat diese Plansprache (Semiplansprache? - vgl. Blanke 1985: 108) während einiger Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts den interlinguistischen Diskurs aktiv mitgeprägt. Auch kritische Betrachter heben die relativen Qualitäten dieser Schöpfung Edgar de Wahls 3 hervor: So erkennt Detlev Blanke (1985: 157-158) dem Occidental-Interlingue den Rang "der wohl ausgewogensten naturalistischen Sprache" zu; de Wahl habe "den für die naturalistischen Systeme wohl bedeutendsten Kompromiß zwischen den beiden schwer zu vereinbarenden Polen Natürlichkeit (d.h. Imitation romanischer Sprachen) und Regelmäßigkeit gefunden". (A.a.O., 163.)

Nur kurze Zeit befand sich Occidental im Aufwind - etwa von Mitte der 20er- bis gegen Ende der 30er-Jahre. Damals trat es dem Esperanto und dem Ido als ernst zu nehmender Mitbewerber entgegen und vermochte namentlich viele Idisten an sich zu ziehen. Ab 1951 erwuchs in dem neuen System Interlingua (von Alexander Gode) auf dem Feld des Naturalismus eine Konkurrenz, die dem scheinbar so ähnlichen und kurz zuvor fast namensgleich gewordenen Occidental-"Interlingue" verhängnisvoll geworden ist.

Aber in jener nun lang zurückliegenden Epoche, in der Zwischenkriegszeit, als Aktivisten Occidentals, Esperantos und Idos einander erhitzte polemische Scharmützel lieferten, war Occidental der Hauptrepräsentant des Naturalismus in der Interlinguistik. 4 Von daher mag es überraschen, dass Occidental Esperanto-Spuren aufweisen soll. Doch de Wahls Sprache steht tatsächlich in zwei Traditionen: in der naturalistischen, das ist klar; aber dazu auch irgendwo am Rande in der Tradition von Esperanto und dessen "Abkömmling" Ido. Occidental besitzt in seinem Wortschatz einiges, was es Esperanto und Ido verdankt. De Wahl selbst bekennt sich dazu (1934: 102): "Yo opine que omnicos vermen bon, experimentat ja in Esp-o, li max expandet e max old L.I. [,] deve esser utilisat anc in Occ."5 Ähnlich auch, als es darum geht, die Form des Wortes für 'bei' (che) zu rechtfertigen: "[...] yo adoptet li form ja usat in Espo e Ido, do conosset de omni interlinguistes." (A.a.O., 101.)6

Das bedeutet doch wohl: Beim Sprachen-Bilden gilt es, weiter zu bauen auf dem, was andere an Brauchbarem geschaffen haben, ähnlich also wie in Technik und Wissenschaft, und weniger geht es um Originalität, wie in der Kunst. Dennoch, die Art, wie de Wahl aus dem vorgegebenen spröden Stoff ethnischer Sprachen die Strukturen Occidentals gestaltet hat, lässt einen Sinn für Harmonie und Eleganz erkennen, der es verdient, künstlerisch genannt zu werden. 7

2 Im Wortschatz Occidentals finden sich also Esperanto-Elemente. Ihr Weg führt in der Regel aus dem Esperanto zunächst ins Ido, bevor sie ins Occidental gelangen. Die meisten Esperanto-Spuren im Occidental sind somit zugleich Ido-Spuren. Seltener wird Ido übersprungen, so dass Esperanto und Occidental ein Wort gemeinsam haben und Ido ein davon abweichendes. 8

Unter Esperanto-Spuren oder Esperantismen sind hier zu verstehen: Wörter, Wortstämme, Wortbildungsaffixe, allenfalls auch strukturelle Charakteristika, hinsichtlich derer mit Sicherheit festzustellen oder mit Wahrscheinlichkeit zu vermuten ist, dass sie aus dem Esperanto ins Occidental übernommen wurden oder (was teilweise auf das Gleiche hinausläuft) dass für ihre Aufnahme ins Occidental aus einer ethnischen Sprache das Vorbild Esperantos im jeweiligen konkreten Fall den entscheidenden Anstoß gegeben hat. (Für Ido-Spuren, Idismen gilt Analoges.)9

Nach welchen Kriterien ist nun ein Occidental-Element als Esperantismus anzusehen - abgesehen von den Fällen, wo dazu eine Aussage de Wahls vorliegt?

Übereinstimmung des Occidental-Elements mit einem entsprechenden Esperanto-Element in Form und Inhalt sind natürlich eine notwendige Voraussetzung, jedoch keine ausreichende. Wesentlich sind nähere Details bezüglich der Herleitbarkeit aus ethnischen Sprachen: Auf wie viele und welche ethnische Sprachen lässt sich das betreffende dem Esperanto und dem Occidental gemeinsame Element zurückführen? Je reichlicher es durch ethnische Sprachen abgestützt ist, desto weniger ist an einen Esperantismus im Occidental zu denken. Denn Internationalismen, 10 mehrsprachig verbreitete Wörter (und Affixe) lateinischer und romanischer Herkunft (einschließlich mittransportierter Gräzismen) sind in Plansprachen vom Schlage Esperantos wie auch Occidentals ja von vornherein zu erwarten; ihr übereinstimmendes Vorkommen in diesen beiden ist deshalb für sich allein noch kein Hinweis auf einen Einfluss Esperantos auf Occidental. Aufmerksam wird der Spurensucher hingegen, wenn in beiden die gleichen Germanismen, Slawismen oder gar identische schwer etymologisierbare Elemente auftreten; wenn ein Element, das beiden Plansprachen gemeinsam ist, hier wie da die gleiche formale oder semantische Abweichung gegenüber seinem ethnosprachlichen Etymon zeigt; sodann auch im Fall mancher übereinstimmender Komposita.

3 Die Tatsache als solche, dass Occidental wie Esperanto das Mittel der Wortkomposition verwendet, ist gewiss nicht als Esperantismus zu werten. Dieses Verfahren existiert auch in einigen anderen plansprachlichen Systemen vor dem Auftreten Esperantos, so namentlich im Volapük.

Ähnliches gilt für das Vorhandensein germanischer Wortstämme im Occidental, wie z.B. land , litt 'klein', mann, nin '9', svimmar 'schwimmen', strax 'sofort', til 'bis'. Die Germanismen Occidentals sind weniger zahlreich als diejenigen Esperantos und decken sich mit diesen nur zum Teil (vgl. 4.5). Übrigens enthalten auch ältere Plansprachensysteme einiges an germanischem Material.

Manches Occidental-Wort mag auf den ersten Blick als Esperanto-Spur anmuten und weist doch bei näherem Zusehen auf ältere Ursprünge oder auf Allgemeineres hin. So kam die Idee, das Wort für 'man' aus dem Französischen zu beziehen (on), vor de Wahl nicht nur Zamenhof, sondern noch vor ihm Schleyer und davor Pirro. Überdies findet sich on 'man' auch in Systemen, die in derselben Ideenwerkstatt wie die Vorformen Occidentals entstanden: in Lotts Mundolingue, in Rosenbergers Idiom Neutral, in Beermanns Novilatiin. 11 Ein Nacheinander braucht nicht allemal auf Entlehnung zu beruhen, und gute Ideen können in der Luft liegen. So mag es sich auch mit dem lateinischen und zugleich slawischen Wortstamm dom- in Volapük, Esperanto und Occidental verhalten.12

Auch Occ. ti 'diese/r/s' möchte man zunächst für eine Adaptierung von Esp. tiu halten. Aber die t-Wurzel kann auch selbständig aus ethnischen Sprachen gewonnen sein. Denn das dazugehörige to 'dies' ist slawisch gestützt (allerdings auch gleich Ido to 'jenes') und die t -/qu-Alternanz von ti und seinem Echo-Wort qui 'wer' findet sich wieder in Occ. tal/qual 'solch-/welch-', tande /quande 'dann/wann' etc. aus romanischen bzw. lateinischen Quellen.

4 Nun zu sicheren oder höchst wahrscheinlichen Esperanto-Spuren im Occidental.13

4.1 Die auffallendste dieser Spuren dürfte die Präposition ye sein (: je/ye). Eine Präposition dieser Art vorzusehen, war ein sehr glücklicher Gedanke Zamenhofs gewesen, und de Wahl war gut beraten, das Verfahren auch für Occidental nutzbar zu machen. (Vgl. Jespersen 1928: 161-162; Manders 1947: 326, 329.) Ob sich freilich an Stelle von je bzw. ye nicht eine weniger apriorisch anmutende Wortgestalt hätte finden lassen, ist eine gesonderte Frage. (Vgl. Berger 1944; Vilborg 1989ff., 2: 110.)

4.2 Die hier und in 4.3 folgenden Esperantismen, ebenfalls der Klasse der Strukturwörter (bzw. derjenigen der Derivationsmorpheme) zugehörig, sind ethnosprachlich einigermaßen motivierbar, wenn auch ohne eindeutige Zuordenbarkeit.

yen 'hier ist/sind'; sieh da' (: jen/yen), nach lat. en, vielleicht zusammen mit dt. jene-. In den 30er-Jahren von de Wahl durch vi (aus vider 'sehen') ersetzt. (Vgl. Wahl 1935: 62; Vilborg 1989ff., 2: 110.)

do 'also' (: do/=) aus frz. donc und zugleich dt. doch. In späterer Umgestaltung: dunc. (Vgl. Wahl 1934: 53; Vilborg 1989ff., 1: 99.)

for(-) 'weg(-)' (: for /=), nach dt. fort und ital. fuori (wie in fuoruscito 'Verbannter', eigentlich "Hinausgegangener"). (Vgl. Vilborg 1989ff., 2: 51.)

-ijar (Suffix + Themavokal + Infinitivendung -r) 'in etwas übergehen, zu etwas werden' (: -iĝi), angeregt durch ital. -eggiare. 14 (Anders Ido: -eskar.)

pri 'von = über (ein Thema)' (: pri/=) aus griech. peri; diese Form hatte das Wort in den Anfängen Occidentals. (Vgl. Wahl 1934: 102; Berger 1944; Back 1998: 372, Fn. 7; Vilborg 1989ff., 4: 87.)

4.3 tra 'durch' (: tra/=) ist in Parallele mit trans 'über ... hinaus' (: trans/=) zu sehen, welch letzteres an sich problemlos wäre.

Im Lateinischen sind trans- und tra- als Präfixe lediglich phonologisch bedingte Varianten eines Morphems, vgl. transferre, traducere. Diese Alternanz setzt sich in den romanischen Sprachen fort, vgl. frz. transférer , traduire. Eine Bedeutungsdifferenzierung ist damit nicht verbunden. Übrigens liegen die Bedeutungen von trans und tra in Esperanto (sowie Ido und Occidental) verhältnismäßig nahe beieinander (so dass etwa PIV 1970: 1129 s.v. trans eine Erläuterung des semantischen Unterschieds für erforderlich hält). Im Russischen ist das nächstliegende Übersetzungsäquivalent für beide dasselbe: čerez. Zamenhof nutzte offenbar das ursprünglich nicht-semantische Nebeneinander von lat. trans(-) und tra-, um die ihm (unter anderem aus dem Deutschen) geläufige semantische Unterscheidung 'über ... hinaus'/'durch' im Esperanto auszudrücken. Bei der Zuordnung der Bedeutung 'durch' zu tra konnte er sich besonders auf frz. à travers, ital. attraverso 'durch' samt traverser bzw. attraversare 'überqueren' stützen. Für de Wahl, dessen romanische Quellsprachen sich nicht auf Französisch und Italienisch beschränken, kommen als Motivierung von Occ. tra 'durch' auch noch span. a través und atravesar hinzu. Man kann Esp. (Ido, Occ.) tra somit einfach aus dem Bestandteil tra- der genannten romanischen Wörter herleiten. Hingegen hat dieses plansprachliche Wort für 'durch' offenbar nichts zu tun mit der gleich lautenden italienischen Präposition tra 'zwischen' (auch als Präfix verwendet) aus lat. intra.

Die Esperanto-Spur bei all dem besteht darin, dass die zwei Esperanto-Präpositionen samt ihrer spezifischen Bedeutungszuordnung sich im Occidental wiederfinden.

por 'für' (: por /=) und pro 'wegen' (: pro/=). Por aus frz. pour , mit vielleicht gern wahrgenommenem Anklang an engl. for. Por aus lat. pro, das aber nur am Rande auch kausale Bedeutung hat, hingegen in heutigem international weit verbreiteten Verständnis mit der Bedeutung 'für' assoziiert wird. Die auf Zamenhof zurückgehende und von de Wahl (1934: 102) verteidigte semantische Zuordnung der beiden formverwandten Präpositionen ist somit nicht unproblematisch. Eine von den zwei Sprachschöpfern vermutlich nicht beachtete Unterstützung leistet ihnen allerdings das Tschechische, wo pro die Bedeutung 'wegen' hat. - (Vgl. Vilborg 1989ff., 4: 79, 88.)

Auch hier also in Esperanto und Occidental übereinstimmende Zuordnung von äußerer Form und Semantik bei den Paargliedern eines Wörterpaares. (Oder, kritischer formuliert: Occidental folgt hier Esperanto im Aufnehmen von Wörterpaaren mit bedenklicher Verwechslungsgefahr.) In 4.4 folgen weitere Beispiele dieses Phänomens, nun aus dem Bereich der reinen Inhaltswörter (Autosemantika).

4.4 attender 'warten' und attenter 'aufmerken' 15 (: atendi und atenti) - jenes aus frz. attendre , ital. attendere, dieses aus der etymologisch damit verbundenen Wortsippe von lat. attentus/a/um 'aufmerksam'. Es soll nicht unerwähnt bleiben, dass die Wahl von at(t)end- für die Bedeutung 'warten' nicht eben glücklich ist, da dieser Stamm ja im Englischen und Spanischen eine durchaus andere Bedeutung hat. (Ido: 'warten' - vartar bzw. expektar; 'aufmerken' - atencar.)

lettre 'Brief' (: letero /letro) stützt sich auf Englisch, Französisch und Italienisch; líttere 'Buchstabe' (: litero/=) auf Latein. - nepot (-e, -o, -a) 'Enkel/in' (: nepo/=) aus lat. nepos, -tis und nev (-e, -o, -a ) 'Neffe/Nichte' (: nevo/=) aus frz. neveu, engl. nephew ['nevju:]. - nobli 'edel' (: nobla/=) und nóbil 'adelig' (: nobela/=) aus den in mehreren Sprachen vertretenen Fortsetzungen von lat. nobilis, mit beiden Bedeutungen. - polve 'Staub' (: polvo/=) und pulvre (später púlvere 'Pulver' (: pulvoro/pulvero). Die Zuordnung der Wörter mit -r- zur Bedeutung 'Pulver' kann sich u.a. auf dt. Pulver, engl. powder , frz. poudre stützen. Gemeinsame Etymologie letztendlich lat. pulvis, -eris. - provar 'versuchen' (: provi/probar ) und pruvar 'beweisen' (: pruvi/pruvar). Quelle ist lat. probare; die Formen mit -o- können sich auf dt. probieren berufen, diejenigen mit -u- auf frz. prouver und engl. prove [pru:v]. Es fällt auf, dass Occidental die gegenüber den Esperanto-Formen deutlichere Differenzierung der Ido-Formen nicht übernommen hat.

Beispiele für Wortpaare von je ungleicher etymologischer Herkunft: líber 'frei' (: libera /=) aus lat. liber/-era/erum und libre 'Buch' (: libro /=) aus lat. liber, -bri. - pople 'Pappel' (: poplo/=) und pópul 'Volk' (: popolo/populo); das erste aus lat. populus ['po:-], das zweite aus populus ['po-].

4.5 Des Esperanto-Einflusses verdächtig ist ein Occidental-Wort, wie in 2 erwähnt, unter anderem dann, wenn es gleich dem entsprechenden Esperanto-Wort aus nicht-lateinisch-romanischer Quelle stammt.

4.5.1 Besondere Beachtung verdienen Wörter von teilweise slawischer Herkunft:

brov(e) 'Braue' (: brovo /=), aus russ. brov', urverwandt mit den bedeutungsgleichen germanischen Wörtern und hier namentlich an die Schreibform von engl. brow erinnernd. (Vgl. Vilborg 1989ff., 1: 67.)

plug 'Pflug' (: plug[i]/plug[ar] ) mit einem sowohl in germanischen als auch in slawischen Sprachen vertetenen Wortstamm. (In Esperanto und Ido hat er verbalen Charakter.) (Vgl. Vilborg 1989ff., 4: 74.)

sam 'der/die/dasselbe' (: sama/=), dessen Stamm Esperanto aus seinen Quellsprachen Englisch, Polnisch und Russisch rechtfertigen kann (same, samy/a/e, samyj/aja/oe) und Occidental zusätzlich auch aus dem Schwedischen (den-/detsamma). (Vgl. de Wahl 1934: 102.)

Diese zugleich germanisch und slawisch gestützten Esperantismen repräsentieren jeweils einen größeren ethnosprachlichen Raum, als es ihre lateinisch-romanischen Äquivalente täten, bzw. in Interlingua/Gode tun - vgl. dessen supercilio, aratro und mesme mit Occ. brov, plug und sam .

Eine Esperanto-Spur mit slawischem Hintergrund ganz anderer Art ist Occ. dejorar 'Dienst haben' (: deori/dejurar) aus russ. Dežurit', dieses aus frz. (être) de jour. (Vgl. Vilborg 1989ff., 1: 87.)

4.5.2 Occidental-Esperanto-Parallelen mit lediglich germanischer Etymologie lassen sich durch folgende Beispiele veranschaulichen:

bed 'Beet' (: bedo /=), ber 'Beere' (: bero/=), drashar 'dreschen' (: dra· i/drashar), dronar 'ertrinken', engl. 'drown' (: droni/dronar), fingre 'Finger' (: fingro/=), gast 'Gast' (: gasto/=), glass ('Trinkglas' (: glaso/=), hem 'Heim' (: hejmo/hemo), land 'Land' (: lando/=), mild 'mild' (: milda ), nest 'Nest' (: nesto/=), trincar 'trinken' (: trinki/drinkar), ya 'ja' (satzmodifizierend) (: ja/ya), 16 yes 'ja' (Antwort), engl. 'yes' (: jes/yes).

4.6 Wortstämme lateinisch-romanischer Herkunft (einschließlich des latiniden Anteils des Englischen) sind im Wortschatz Occidentals wie Esperantos zwar gewissermaßen der Normalfall, aber selbst bei dieser Art von Parallelen ist Esperanto-Einfluss dann zu vermuten, wenn übereinstimmende Form oder Bedeutung vorliegt, namentlich auch bei Herleitbarkeit des Wortes aus nur einer ethnischen Sprache. Beispiele:

che 'bei' (: ĉe/che ) nur aus frz. chez (vgl. de Wahl 1934: 101). - composter 'setzen' (im Buchdruck) (: komposti/kompostar) gegenüber den ethnosprachlichen Stämmen compos- und composit- sowie dem ital. Partizip composto. (Vgl. Vilborg 1989ff., 3: 46.) - luar 'mieten' (: lui - aber Ido lokacar) nur aus frz. louer. - plendir '(be)klagen' (: plendi/plendar) aus frz. plaindre. - pruntar 'entleihen' (: prunti/pruntar) nur aus frz. emprunter. - serchi 'suchen' (: ser _i/serchar ) aus engl. search, dieses aus altfrz. cerchier. - spruzzar spritzen' (: · pruci - aber Ido spricar ) aus ital. spruzzare. - quancam 'obwohl' (: kvankam/quankam ) aus lat. quamquam. (Vgl. Vilborg 1989ff., 4: 75.) (In späterem Occidental-Interlingue durch benque, etsi ersetzt.) - Dazu das Suffix -ach- (pejorativ) (: -aĉ-/-ach-) aus ital. -acc(i)-. - Diesen Beispielen anzuschließen, wiewohl deutlich aus zwei ethnischen Sprachen herleitbar: buchar (Subst.), engl. butcher (Subst. und Verb). (Vgl. Vilborg 1989ff., 1: 67.)

4.7 Schließlich ergibt sich die Vermutung einer Esperanto-Spur im Occidental bisweilen aufgrund des parallelen Vorkommens bestimmter komplexer Wörter wie: Kompositum, Affix-Ableitung, Zusammenrückung. Beispiele sind: vispunctu 'Gesichtspunkt' (: vidpunkto/vidpunto); famconosset 'berühmt' (: famkonata). Derartige Wortbildungen dürften den frühen Occidentalisten, die ja großenteils aus den Reihen der Idisten und Esperantisten kamen, unwillkürlich in die Feder geflossen sein. Nannten die Anhänger Occidentals einander doch noch gegen Ende der 20er-Jahre samideanes, bis dann das nicht mehr an Esp. samideanoj gemahnende coidealistes in Gebrauch kam. Jener frühen Phase gehört auch preferli 'vorzugsweise, lieber' an - mit dem später aufgegebenen Adverb-Suffix -li gebildet, ein unverkennbares Echo von Esp. prefere. An seine Stelle traten später preferibil(men), precipue. Das Occidental-Wort intot 'insgesamt, überhaupt' lässt als Vorbild Esp. entute (Ido entote) erkennen. (Und das Esperanto-Wort scheint angelehnt zu sein an dt. insgesamt und poln. w ogóle oder auch wcale .)

Bemerkenswert ist das ebenfalls hergehörige denov 'wieder, von neuem'. Ist es eine Kopie von Esp., Ido denove? Aber andererseits verwenden mehrere europäische Sprachen eine Verbindung des Wortstammes für 'neu' mit einer Präposition der Bedeutung 'von': So schon altgriech. ek kainês, lat. denuo (aus de novo), dann u.a. frz. de nouveau, dt. von neuem, poln. znowu, russ. snova. Demnach hätte sich das Occidental-Wort denov allein schon nach solchen Vorbildern und ohne Einwirkung von Esperanto bzw. Ido ergeben können. 17

5 Esperanto-Spuren im Occidental mit ihren vielen Facetten ergeben sich daraus, dass Occidental sich historisch wie strukturell in einem Bereich befindet, wo zwei Entwicklungslinien des Plansprachenschaffens einander nahe kommen: Einerseits die Schule des Naturalismus, wonach die Welthilfssprache schon potentiell in den europäischen Internationalismen-Beständen bereit liege und aus diesen nur herausgefiltert zu werden brauche. Andererseits die Versuche, Esperanto umzugestalten - beginnend mit Zamenhofs unverwirklichten Änderungsvorschlägen von 1894 (vgl. u.a. Couturat/Leau [1907]]: 28-35 und 52, Anm. 1), dann in das Reformsystem Ido mündend, das seinerseits zu weiteren neuen Entwürfen Anlass gab, "quasi Reformen des Esperanto auf zweiter Ebene" (Blanke 1985: 197). Monnerot-Dumaine (1960: 77) erwähnt unter den "systèmes dérivés de l'Ido" auch de Wahls System von 1909, eine Vorstufe Occidentals. Wäre Occidental demnach auch ein "Idide" (wenn der Ausdruck gestattet ist) und in weiterer Folgerung ein indirekter Esperantide? "All recent attempts [somit auch Occidental] show an unmistakable family likeness", urteilt Jespersen (1928: 52). Diese Familienähnlichkeit ist schon geringer bei Interlingua/Gode aus 1951. Es weist kaum noch etwas auf, was man Esperanto-Spur nennen möchte. Die Grenze, bis zu der die Anregungen Esperantos reichen, schließt Occidental noch ein und lässt Godes Interlingua außerhalb.

Bibliographie

a) Zitierte Literatur

- (1946): "Vive de Edgar de Wahl". In: Cosmoglotta/A 130: 17-31.

b) Ido- und Occidental-Wörterbücher

Zur Namensänderung: Matejka (1945); [Berger] (1948); [Berger] (1949); [Matejka] (1980). - Ich verwende hier den Namen Occidental, weil das Thema einen Zeitabschnitt betrifft, wo dieser vom Autor de Wahl gewählte Name in Geltung stand - wie auch der Gegenstand dieser Untersuchung das Sprachsystem des Occidentals der 20er- und 30er-Jahre ist.

Das "Adressarium 1999" der Interlingue-Union, ein Faltblatt, gibt 25 Namen aus 14 Ländern an.

Zum Werdegang de Wahls (1867-1948): de Wahl (1927, 1930); Berger 1946; Duli _enko 1987. - Zur Geschichte Occidentals: Stenström 1997. - Bibliographie: Blanke 1985: 328-329; Duli _enko 1990: 220.

Zum Begriff des Naturalismus in der Interlinguistik: Carlevaro (1976, 1972); Blanke (1985: 157-161).

"Ich bin der Meinung, dass alles wirklich Gute, das bereits in Esperanto, der verbreitetsten und ältesten internationalen Sprache, erprobt ist, auch in Occidental benutzt werden soll."

"Ich übernahm die schon in Esperanto und Ido gebrauchte, somit allen Interlinguisten bekannte Form."

Vgl. de Wahl (1937): Zamenhof habe Stilempfinden besessen, Couturat und Rosenberger seien bloße Techniker gewesen.

Occidental besitzt auch Wörter, die nur aus Ido und nicht aus Esperanto stammen können; sie sind nicht Gegenstand dieser Untersuchung. Beispiele: ca 'ob' und Fragepartikel (Ido ka[d]); standar 'sich (gut, schlecht etc.) befinden'; til 'bis'. (Dagegen Esp. ĉu, farti, ĝis.)

Ein wichtiges Werk zum vorliegenden Thema: Vilborg 1989ff. Dieses etymologische Wörterbuch Esperantos vermerkt zu den meisten Stichwörtern auch die Äquivalente in Ido, Occidental und Interlingua/Gode, gegebenenfalls samt Kennzeichnung als Esperantismus; dies begreiflicherweise ohne Kommentar, da es ja nur Randthema des Werks ist. In dem mir zur Verfügung stehenden Material der Bände bis einschließlich "R" finde ich 24 Occidentalwörter als Esperantismen bezeichnet. Meine diesbezüglichen Befunde decken sich weitgehend, aber nicht in jeder Einzelheit mit denjenigen Vilborgs.

S.: Braun/Schaeder/Volmert (Hrsg.) 1990. In Bezug auf Plansprachen: Verloren van Themaat 1980; Gode 1951: xviiff.

Charakterisierungen dieser Systeme in Couturat/Leau (1903) und [1907], s. jeweils "Table des matières".

Vilborg (1989ff., 1: 100) bezeichnet Occ. dom wohl unzutreffend als Esperantismus.

Schreibungskonventionen ab 4.1 innerhalb der Klammern: Nach dem Doppelpunkt die parallele Esperanto-Form; gegebenenfalls nach Schrägstrich die entsprechende Ido-Form; ist sie mit der Esperanto-Form schreibungsgleich, so wird sie durch "=" ersetzt.

Dazu de Wahls Rechtfertigung (1922: 21): "-ijar es li sam quam italian -eggiare [,] portug. -ejar, do natural e bon." Aber diese Suffixe haben nicht die gleiche Funktion wie -ijar!

Spätere Schreibung: atender, atenter.

Bezüglich des Vorkommens im Jiddischen ist in Vilborg 1989ff., 2: 109 der Hinweis "Back 1980" zu ersetzen durch "Gold 1980".

Während dem Occidental-Wort denov zur Rechtfertigung die zahlreichen ethnosprachlichen Vorbilder genügen, muss Esp. denove sich strengere Maßstäbe gefallen lassen; nämlich die Frage, welche Funktion de- hier habe? Eine Verbindung aus de und nov ergibt doch nicht den Inhalt 'wieder'! Folglich hätten die Esperanto-Wörterbücher denov- als separaten Wortstamm anzuführen.